Montag, 30. November 2015

Fritz Haarmann - Der Totmacher

Der Mann ist weltberühmt. Werwolf, Schlächter, Vampir von Hannover. Fritz Haarmann. Ein Mörder. Der erste, von dem ich schon als Kind gehört hatte. Da war dieses Lied. Keine Ahnung, ob mein Vater es in Bierlaune trällerte oder ob es sich auf dem Plattenteller meiner Großeltern drehte, aber im Ohr hatte ich es bereits, als ich den doppelten Knoten beim Schuhbinden noch nicht passabel schaffte. Ein Karnevalsschlager, dachte ich später, als es Zeit war, die Propellerschleifen aus den Zöpfen zu entfernen, fand den Text eigenartig fies, lauschte und machte meine großen Augen. Wie ich es halt immer tat, wenn die Erwachsenen sich darüber unterhielten, wie das echte Leben aussieht. Ohne Märchen.
„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Schabefleisch aus dir.“
Aus den Augen macht er Sülze, aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste, und den Rest, den schmeißt er weg.“
Die erste Haarmann-Strophe, gesungen zur swingigen Melodie von „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir…“ (Walter Kollo, Operette „Marietta“, 1920er Jahre) kenn ich immer noch, so was vergisst man nicht, das ist wie bei einem ziemlich bösen Hänschen-Klein, nur schlimmer. Allemal, dieses Lied über einen Killer und gleichzeitig Kannibalen irritierte mich. Irgendwann fragte ich, ob dieser Haarmann wirklich wahr wäre. Meine Mutter bestätigte, mein Großvater setzte laut noch einen drauf: „Der hat nur junge Kerle umgebracht. So einer war das.“ Vorläufig Punkt für ihn. Das verhaltene Flüstern kam von meiner Großmutter: „Und sie geschlachtet und gegessen. Sagt man.“
Götz George als "Der Totmacher"
Götz George als „Der Totmacher“
Details folgten später, da waren die Zöpfe ab: Dass Haarmann (1875 – 1924, Hannover) seine „Puppenjungs“, – Anfang des 20. Jahrhunderts war das eine gängige Bezeichnung für männliche Prostituierte -, zum Verzehr verwertet hat, konnte nie nachgewiesen werden. Im Regelfall tötete er sie durch einen Biss in den Hals, zerstückelte sie und entsorgte die Einzelteile im Fluss, wie er es selbst vor Gericht anschaulich beschrieb. Der Verdacht blieb: Da Friedrich „Fritz“ Heinrich Karl Haarmann bis zu seiner Anklage wegen Mordes an 27 Menschen in der Zeit von 1918 bis 1924 mit Fleischkonserven gehandelt hat, schien es nicht abwegig, dass er in den eh kargen Zeiten seine Leichen zu Wurst verarbeitete. Zumal der Mann, – Vater autoritär, Mutter nachgiebig, Bruder sexuell gestört -, als pathologische Persönlichkeit galt, mit attestierter Schizophrenie, ergo eh kein Normaler. Kannibalismus. Er selbst bestritt das. Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände seiner Opfer hätte er zu Geld gemacht, das ja und mehr auch nicht.
Freilich sagen, woher er das Fleisch in seinen Dosen denn beziehe, konnte er so recht nachprüfbar nicht. Da blieb denn auch der Nachbarin neben Haarmanns Achselzucken ein Albtraum , der nicht nur ihr den Magen umdrehte: Sie führte ein Restaurant in der Straße „Rote Reihe“, wo auch das Liebespaar Haarmann/Grans wohnte, und hatte regelmäßig bei ihm eingekauft.
„In Hannover an der Leine, Rote Reihe Nummer 8,
wohnt der Massenmörder Haarmann, der schon manchen umgebracht.
Haarmann hat auch ein’ Gehilfen, Grans hieß dieser junge Mann.
Dieser lockte mit Behagen alle kleinen Jungen an.“
Haarmanns Lebensgefährte, Hans Grans, der im Bahnhofsviertel für seinen Partner die Jungs (aus-)suchte, wurde 1926 als Mitwisser zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Bei seiner Festnahme trug er die komplette Garderobe eines der Ermordeten. Überhaupt an verwahrten oder verkauften Hemden, Hosen, Stiefeln konnten viele der Opfer von Angehörigen, die sie als vermisst gemeldet hatten, letztendlich identifiziert werden. Übrig geblieben war von ihnen tatsächlich nur das, was sie am Leib getragen hatten, ansonsten wurden nur Schädel und Knochen im Flussbett der Leine gefunden. An die Namen der vielleicht zwanzig, vielleicht vierzig insgesamt von ihm Ermordeten, allesamt kleine Jungs und blutjunge Männer zwischen zwölf und zweiundzwanzig Jahren, die Mehrzahl aus dem Strichermilieu, konnte Haarmann sich in den seltensten Fällen erinnern.
Szenenfoto der Fassbinder-Produktion
Szenenfoto der Fassbinder-Produktion
Dass er überhaupt als bereits dringend Tatverdächtiger, – gesucht hatte man nach diversen Vermisstenanzeigen und den Knochenfunden verstärkt im Homosexuellen-Milieu -, relativ spät verhaftet wurde, lag mit an Haarmanns Nebenjob: Als Polizeispitzel für Kleinganoven war er nicht so im Visier, wie es hätte sein müssen. Den Beamten wurde Schlamperei bei den Ermittlungen vorgeworfen, Angehörige im Gerichtsaal empörten sich, man hätte Morde verhindern können, wenn frühzeitig den Spuren Haarmanns nachgegangen worden wäre. Im Gegenzug hatte die Polizei sich bei ihren Vernehmungen denn doch mit recht dubiosen Mitteln mächtig ins Zeug gelegt, um Haarmann geständig zu sehen: Unter seiner Zellendecke waren Bretter mit Schädeln angebracht, deren Augenhöhlen mit rotem Papier ausgekleidet waren, die von hinten beleuchtet wurden. Um Haarmann so richtig Angst zu machen, stellte man ihm einen Sack mit Gebeinen in die Zellenecke und sagte ihm, die Seelen der Toten würden ihn holen, wenn er nicht auspacke.
„Es ist kein Vergnügen, einen Menschen zu töten, ich habe nur zuweilen meine Tour.“ (Fritz Haarmann)
Haarmanns Geisteszustand stand im Zentrum der Aufmerksamkeit. War der Mann einfach „nur“ völlig krank? Das Gericht befand nicht so, erkannte Haarmanns Zurechnungs- und Schuldfähigkeit nach Anhörung des psychiatrisches Gutachters Ernst Schultze an und verurteilte ihn zum Tode auf dem Schafott. Das Urteil wurde am 15. April 1925 im Hof des Gerichtsgefängnisses vollstreckt. Haarmanns abgeschlagenen Kopf verwahrte man im Institut für Rechtsmediziner Georg-August-Universität Göttingen jahrzehntelang als Präparat, letztendlich wurde er eingeäschert und im März 2014 anonym bestattet. Den könnte man sich jetzt also definitiv nicht mehr ansehen. Dafür gab’s/gibt’s anderes grotesker Art zu gucken oder eben nicht (mehr):
Haarmann als Comic-Figur
Haarmann als Comic-Figur
Der Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka schuf 1992 einen Haarmann-Fries, dessen Ankauf durch das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover zum Preis von 100.000 D-Mark zu Protesten unter dem Motto „Steuergelder für Massenmörder-Denkmal“ führte. Das Ganze verursachte ein bundesweites Medienspektakel. Zur Expo 2000 war eine Haarmann-Meile geplant, auf der sich Künstler mit dem Thema auseinandersetzen sollten. Auf dem Programm: Eine „Haarmann-Kantine“ mit Blutwurst und Sülze. Wurde nicht gemacht. 2004 fiel den Stadtwerken Hannover ein, sie könnten in ihrem Kundenmagazin ein Würfelspiel namens „Die Haarmann-Schleife“ drucken. Wurde zwar gemacht, die Ausgaben mussten aber schleunigst eingestampft werden. 2007 war’s ein Adventskalender der Hannover Marketing und Tourismus GmbH, der für Empörung sorgte: Auf einem Türchen befand sich eine Abbildung von Fritz Haarmann mit Beil. Und 2012 schaltete sich mahnend der DFB ein, weil eine seit mehreren Jahren im Fanblock von Hannover 96 gezeigte Fahne mit Haarmanns Kopf die Gemüter erhitzte. Es existiert tatsächlich sogar ein Haarmann-Comic (Carlsen Verlag, Hamburg 2010). Wem’s gefällt.
Göttingen, Filmszene (George)
Göttingen, Filmszene (George)
Über die sechswöchige Untersuchungszeit und Befragung Haarmanns in Göttingen durch den Psychiatrieprofessor Ernst Schultze drehte Regisseur Romuald Karmakar 1995 mit Götz George (Haarmann) und Jürgen Hentsch (Schulze) in den Hauptrollen den meisterhaft gespielten Film Der Totmacher. Die Dialoge für die Darsteller lehnen sich eng an die originalen Verhörprotokolle aus dem Jahr 1924 an.
„Der Zuschauer schwankt im Verlauf der Gespräche zwischen Mörder und Gutachter, zwischen Abscheu und Faszination. Der Film ist als ungemein dichtes Kammerspiel inszeniert, das nicht auf Emotionalisierung angelegt ist, sondern als nüchterne Fallstudie. Der glänzende Hauptdarsteller vermittelt in der Rolle des Haarmann das eigentlich Unfaßliche.“ (Lexikon des Internationalen Films)
Nicht die einzige Verfilmung, von umfassender Literatur zum Thema mal abgesehen: Die Fassbinder-Produktion „Die Zärtlichkeit der Wölfe“, gedreht 1973 unter der Regie von Ulli Lommel, zeigt Kurt Raab als Haarmann. Erzählt wird die Geschichte des Jungenmörders Fritz H. im Nachkriegs-Ruhrgebiet. Andere Zeit, anderer Ort, Inspirationsquelle war aber zweifellos der Hannoveraner Massenmörder. Die Fensehdokumentation „Puppenjungs – Der Fall Haarmann“ (2009, Regie: Nils Loof) befasst sich mit den Auswirkungen bis heute, 2011 erschien das düstere Hörspiel „Murder Documents 01 – Haarmann“. Neun Jahre zuvor brachte Marius von Mayenburg das Theaterstück „Haarmann“ auf die Bühne, veröffentlicht in einem Band mit Das kalte Kind. Auf dem Buchrücken steht der Satz:

„Und mir hat man versichert, meine Angst vor Menschen sei ohne Grund“.

copyright by Karin Reddemann
erschienen unter www.phantastikon.de 

Verfallsdatum

Frisch auf den Löffel und ab damit ins Mäulchen, schön artig kauen und schlucken, bloß nicht würgen, bloß nicht kotzen. Mehr hatte der alte Mann nicht verlangt.
Vorher noch kurz die Schädelplatte mit den lächerlichen Kringellocken entfernen, in denen sich seit Alexander die üblichen Verdächtigen tummelten. Große Güte, Schrimpfipimpfi, nichts dazugelernt. 3000 Jahre jüdische Vergangenheit spulten sich in diesem brillanten Kopf ab, aber irgendein verdammtes Wässerchen gegen die lausigen weißen Dinger war wohl nicht drin gewesen in Davids Schatztruhe. Gott gibt, Gott nimmt, kommt auf seine Laune an, aber Schuppen sind dem scheißegal, weiß doch jeder. Jud Schrimpfsüß wohl nicht. Sollte man mit geballter Faust wieder wach hauen, den ollen Schuppenschlecker, ist doch wahr, dachte Tom, solch ein Fäustchen im Nacken bewirkt oft wahre Wunder, Angst frisst Seelchen auf, befreit von dummen Flöckchen, lässt sie tanzen, aber bitte nicht auf meinem Teller, ist doch wirklich widerlich. Außerdem muss man keine bluttriefenden Schweinereien veranstalten, wenn das Träumerle sich wieder die Äuglein reibt, anstatt abzusaufen in seiner Wanne.
Noch schnarchte Schrimpf. Tom hätte jetzt döppen müssen, hübsch lange, bis keine Bläschen mehr blubbern. Dann sägen. Ging aber nicht. Er war betrunken. Nicht genug, um die verfluchte Faust los zu werden, die völlig idiotisch in ihm herumspukte. Armer Tor, blödes Arschloch, schimpfte der klebrige Ungar in ihm, der sich lustig mit dem Weinbrand amüsierte. Hab‘ ich doch Juristerei und Philosophie studiert, Medizin und, ach, Theologie. Dachte er gelassen und wusste, dass es nicht wahr war. Du nicht, bellte sein Teufel böse, aber Schrimpfipimpfi, der hat. Und der will jetzt, dass Du ihn ertränkst wie ein Bündel nichtsnutzige Katze und sein Gehirn frisst. Tom starrte auf den schmächtigen Körper im Pfefferminzbad, worauf Schrimpf Wert gelegt hatte, roch Gesundes, zählte die Schuppen an der linken Schläfe und hustete. Ohne diese entzückenden weißen Tüpfelchen auf den verstaubten Klamotten kannte Tom Tietz seinen schrulligen Professor nicht, der ihn nach all den Jahren höflich zu sich eingeladen hatte, um sich von seinem Lieblingsstudenten zersägen zu lassen. Nein, korrigiere, dachte Tom, beruhige Dich, alter Junge, schließlich solltest Du nur am Kopf schnippeln, der Rest bleibt dran, der Kopf des Maestros ist gemeint, nicht mehr, auch nicht unbedingt weniger, schließlich gilt’s, ans Hirn zu kommen, lediglich an das leckere warme Hirn. „Damit ich Dich lecken und schlecken kann.“
Schrimpf hatte die ganze Ladung Tabletten geschluckt, brav weg gespült mit ordentlich Wodka, den er misstrauisch bewacht hatte, um Tom nicht in Versuchung zu bringen. „Besauf‘ Dich nachher, Junge. Aber jetzt brauche ich Dich klar.“ Zwei Glas Rotwein, mehr wollte er ihm nicht gönnen. „Warte, bis ich schlafe. Dann mach‘ Dich an die Arbeit. Schnell, dann spüre ich nichts. Und dann iss mich, mein Junge. Mach mich unsterblich, das bist Du mir schuldig. Hab Dich durchs Studium gebracht, Du fauler kleiner Penner. Und verdammt, die zwanzigtausend kannst Du doch gebrauchen.“ Klar. Und ficken musste ich Dich auch. Dachte Tom böse, setzte sich die wievielte Flasche von irgendwas an den Hals, spuckte in die Pfefferminze und drückte den grauhäutigen Kopf seines Gönners fest und fast gleichgültig unter Wasser, hielt ihn dort, bis er leer und frei war.
Wenigstens hatte Schrimpf den Anstand besessen, sich ordentlich bekleidet in die Wanne zu legen, nackt und geschrumpft hätte er ihn nicht ertragen, sah seine Großtante Lilli vor sich, die mit entblößten Brüsten und verschmiertem Lippenstift gefunden worden war, graue faltige Haut, die Zähne im Melissengeist auf der Nachtkonsole. Er glotzte auf den toten Kopf dort im grünen Wasser, dachte an die Säge und das Gehirn und kippte sich den Rest aus der signierten Flasche, deren Bedeutung ihm scheißegal war, bis hinunter zu seiner quengelnden Blase. Hatte irgendwo zwischen der Pest und einer verstaubten Camus-Biographie gestanden, wohl ein Relikt aus glorreichen trunkenen Akademikerspähren. Schmeckte wie bereits getrunken und ausgerotzt, spülte aber geschickt Mama Ratio weg. Er fühlte sich wie weg geschissen. Besoffen. Irre. Er hatte sich tatsächlich auf diesen wahnwitzigen Deal eingelassen, und jetzt konnte er nicht kneifen. Oder doch?
Wer war er denn? Ein affiger kleiner Studienrat, der im intellektuellen Müll der neuen Zeit stocherte. Nicht unbedingt ein Killer. Kein Gwupschupupschi-Indianer, keiner von denen, die frisches Hirn schlürften. An den korrekten Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, unwichtig. Da war Schrimpfs Anruf. Das Geld für sein Flugticket. Der dahingelächelte Hinweis auf den Krebs, der sich in ihm festgebissen hatte. Dieses Buch über die Gwappapschodings, die glaubten, ein großer Geist würde in ihnen weiter leben, wenn sie sein Denken und Fühlen fressen würden. Aber bitte warm serviert. Wie einfach hatte das geklungen: „Ich sterbe eh‘, Junge, also mach was aus mir.“ Logisch der Schlüssel zum Glück: Wodka, Tabletten, Absaufen, Schädel aufsägen, Hirnmasse spachteln. Kräftig rülpsen. Drin ist er, der oberschlaue Wichser, drin in Dir mit allem, was er weiß. Wusste. Wissen wird. Verlockend, so schnell so gut schlau zu werden.
Die Zwanzigtausend lagen auf dem Küchentisch. Tom betrachtete seine erste richtige Wasserleiche, übergoss sie mit einem Schwall aus seinem Mund, der eindeutig nach zuviel unverdautem Alkohol roch, schämte sich kurz, da es diesbezüglich eine Abmachung gegeben hatte. Schlief ein, mit dem Kopf in der Toilettenschüssel, zu der er sich vorgerobbt hatte, um seiner miesen kleinen Moral noch ein letztes Mal Feines anzutun. Träumte wirr, sah sich die Säge aus Schrimpfi-Pimpfis abgenutzter Reisetasche holen, nachdem er den Stöpsel aus der Wanne gezogen hatte, beobachtete sich bei ungewohnter Arbeit, die ihn weniger entsetzte als seine gleichgültige Entschlossenheit, einem alten Mann auf dem Sterbebett die gewünschte Beichte abzunehmen. Ruhe im lausigen Frieden. Betete er zärtlich, wachte unter dem Waschbecken auf und fuhr sich mit blutverschmierten Fingern durch das Haar, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Sorgfalt, die er gewohnheitsmäßig an den Tag legte, wenn es um seine geliebte Frisur ging. Rotgoldenener Prachtschopf, akkurat frech, perfekt gestylt mit unartigen Sommersprossen, die auf der Nase hüpften. Direkt darunter sein Strahlemann-Gebiss. So was macht Weiber nass. Dachte er halbherzig entseelt, leckte verschlafen seine Fingerspitzen ab, kotzte auf die rotzgelbe Badezimmermatte und freute sich wie ein ungezogener Lausbub, als er die noch halbvolle Flasche neben dem Wäschekorb sichtete. „Nicht soviel saufen, Cowboy.“ Mahnte er sich streng, kurz nur, kicherte, krabbelte zu seinem Schätzchen und knutschte mit ihm.
Faktum war: Er hatte partout keinen Hunger. Bevor er sich sein Fläschchen gönnte, pulte er mit dem Daumen ein kleines Loch ins Hirn, würgte, spuckte einen gelben Klumpen auf Schrimpfs dezent gemusterte Seidenkrawatte und verrieb ihn verträumt zu einer breiigen Masse, die dem alten Herrn nicht gefallen hätte. „Hast gekleckert, Doditodi. Dududu.“ Tom zupfte neckisch an Theodors linkem Ohrläppchen, wurde dreister, weil der nicht muckte, kniff böse hinein, erwog kurz, es gänzlich abzureißen und ließ es. Darum hatte Professor Theododitodi ihn schließlich nicht gebeten. Gestört hätte es ihn vermutlich nicht mehr, wie ihn auch zu Lebzeiten die ekligen Pünktchen auf dem Cordkragen seines karierten Jacketts nicht gestört hatten. Immer Cord. Immer kariert. Schuppen auf Müll aus stinkendem Tweed, die Tom vor Urzeiten gern weg gepustet hätte, um Doditodi plumpe Lacher zu ersparen. Jetzt nicht mehr. Der feine Herr, dem Käfig und Glatze erspart geblieben waren, hatte sich in die Hose gemacht, bevor es ans Eingemachte gegangen war. Roch wie Großtante Magda auf 1B, die seeelenruhig schiss und kotzte, bevor sie meckerte: „Keiner da? Bin wach. Wisch einer den Mist weg.“ Und jetzt? Niemand Kompetentes da zum Reinemachen. So viel Blut, so viel Schädel. Und dieses verflucht frische Gewusel irgendwo in Schrimpfipimpfif lädiertem Kopf, das ihm gesegneten Appetit wünschte. Tom kicherte erneut und segnete zum wiederholten Mal den klebrig süßen Ungarn und seine hochprozentigen Freunde, die ungezogen seine Feinmotorik blockierten. Genau um die ging’s aber jetzt. Und? Wie sollte er das Zeug verputzen? Ohne Arme, ohne Hände.
Er atmete tief durch. Bleib cool, Tom Tietz, schwitz nicht, schrei nicht, da sind sie doch, die süßen Fingerchen, einszweidreiundzehn, sind nur nicht zu gebrauchen, zucken und zittern herum, könntest sie Dir auch abrupfen, unmöglich, Dich damit zu füttern. Könntest ja einfach die Zähne reinhauen und Stück für Stück weg beißen, zwei Kilo sehniges blutiges Saurierfleisch, vier Pfund feines Mett von der Wursttheke, haben andere vor Dir auch geschafft. Nein, nicht einpacken, das esse ich sofort. 100 Milliarden Nervenzellen zum Naschen, da lehnt doch niemand dankend ab, teilt oder brät das Ganze. Wie viele hatte Doditodi sich wohl bereits weg gesoffen? Allemal nicht genug, um uninteressant zu sein für Toms eigenes Potential. Verhasster Durchschnitt, mehr war da nicht. Mit Titzimietzi und Schrimpfipimpfi im Kopf würde es sich leben lassen. Besser als Affenhirn. Nur was für perverse Weicheier, die ihn nicht hoch kriegen. Sein Schwanz war in Ordnung. Würde er eh nie machen. Die süßen unschuldigen Äffchen, pfui Deibel. Tom schüttelte sich, soff noch ein Weilchen, während er in Schrimpfs Bücherregal nach weiteren Leckereien suchte. Schlief wieder ein, irgendwo zwischen Couchtisch und dem abgewetzten Ledersessel, in dem er vor wie vielen Stunden gehockt hatte, um mit Schrimpf aufs Absaufen und Sägen und Fressen anzustoßen. Träumte selig. Er auf dem Podium, die Meute klebt an seinen Lippen, während er ihr seinen Genius um die entrückten Ohren knallt. Wachte irgendwann mit einer hübsch gewaltigen Erektion auf, wühlte stolz ein bisschen an sich herum und wurde augenblicklich zornig, als er dabei an die Flasche stieß, die sich von ihm weg kullerte Richtung Kamin, in dem vor Urzeiten das Feuer krepiert war. Hatte Schrimpf entfacht, der olle Romantiker, extra für ihn. Damit’s noch so richtig nett gemütlich wird, bevo r… bevor was? „Ich kann das nicht.“ Tom sprach zu Tom, sehr bestimmt, flennte dann doch und wünschte sich seine Mama zurück. „Hab Mist gebaut, Mutsch, hab den Schrimpf um die Ecke gebracht. Hab den Schädel zersägt und soll das jetzt essen. Ist nicht meine Schuld, Mutsch, der da war’s. Der hat angefangen, der wollte das so.“ Tom schniefte, putzte sich den Rotz mit dem Hemdsärmel ab, ließ seinen Blick hilflos umher schweifen, dachte an die Flasche vor dem Kamin, die neue volle, die er wohl irgendwo irgendwann in der Nacht entdeckt haben musste, strahlte, weil sie heil geblieben war. Ein Schlückchen noch. Mut muss her, Cowboy, stell Dich nicht so an, Jammerlappen.
Als die Tür eingetreten wurde, saß Tom mit einem bekotzten Frotteehandtuch um den Hals, nett drapiert wie eine Serviette, am Küchentisch, hielt Messer und Gabel ordnungsgemäß in den Händen, starrte auf sein Mittagessen und freute sich diebisch, mit dieser ganzen Sauerei nicht mehr allein zu sein. „Setzen Sie sich doch.“ Zwei Männer. Ein schlaksiger Dünner mit einer Billion Aknenarben, ein fetter Pygmäe. Na großartig, dachte Tom. Unsere Polizei. Echte Kerle. Der Dicke glotzte ihn nervös an. „Wieso machen Sie nicht auf, wenn wir klingeln? Sie haben doch angerufen? Tom Tietz?“ Tom nickte vergnügt. „Jau. Hab aber nichts gehört.“ Er legte das Besteck beiseite, nahm stattdessen einen Löffel und klopfte damit das Hirn auf seinem Teller wie ein steinhart gekochtes Hühnerei ab. Versuchte, wohl wissend, dass das nicht klappte, ein Häppchen abzustechen, um es seinen neuen Freunden unter die Nasen zu halten, scheiterte auch jetzt wieder, glücklich unter Zeugen. Ein süßer Triumph. „Sehen Sie? Das geht nicht. Kann man nicht mehr essen. Frisch muss das sein. Hat Schrimpfipimpfi mir gesagt. Wird wohl nichts.“ Und dann, kläglicher, als beabsichtigt: „Hab wohl zu lange gewartet. Jetzt ist er futsch, der Schrimpf. Aber ich war’s nicht. Der da, der da in der Wanne war’s.“ Sprach es, schnippte mit dem Finger an die leere Flasche, spuckte den stinkenden Schwall, der jetzt wohl auf ewig in ihm schwappte, ein letztes Mal auf das Hirn, wischte sich fahrig mit dem Zipfel des Handtuchs den Mund ab und wünschte sich, betrübt zu sein. „Jetzt ist es völlig hinüber. Ich hätte ihn schon gern in mir drin gehabt.“ Flüsterte verschwörerisch. „Wissen Sie. Er war halt eine Koryphäe.“ Glotzte neugierig die beiden Deppen in Schrimpfs Küche an und atmete kräftig männlich durch.
„Warum ich Sie angerufen habe … ist es strafbar, das Verfallsdatum nicht zu berücksichtigen?“

copyright by Karin Reddemann
erschienen unter www.phantastikon.de

Shutter Island

Es gibt da etwas, das muss vorweg raus. Sofort. Es ist etwas teuflisch Nettes über Dennis Lehane. Seine Art, zu schreiben, ist einfach nur gut. Verdammt gut. Shutter Island ist ein immens packender, literarischer Psycho-Höllen-Trip, ohne Schlachter und Schlitzer, aber gleichwohl mit kochendem Blut der ganz besonderen Gruppe geschrieben. „Sie sahen aus, als hätten sie als Kinder nicht genug zu essen bekommen und seitdem eine Stinkwut im Bauch.“ Das ist ein grandioser Satz für den ersten Wimpernschlag. Der hier ist für den zweiten. „Die Sterne beobachteten ihn wie zuvor die Ratten, und beim Klettern kam ihm Dolores abhanden; er konnte sie sich nicht mehr vorstellen.“ Und noch einer sei, – bei einer bemerkenswerten Fülle tatsächlich recht wahllos -, für die Nackenhaare zitiert: „Sie schrie aus vollem Hals, kreischte, als wären alle Toten des Landes durch das Fenster hinein geklettert und marschierten auf ihr Bett zu.“
klippeNun hat Lehane, Autor von Mystic River, verfilmt unter der Regie von Clint Eastwood und mit Oscars überschüttet, als Schriftsteller keinen Stammplatz im Schauer-Genre, das ist bekannt. Dass er (eben auch) Horror grandios beherrscht, weiß der Leser von Shutter Island , 2003 in Amerika veröffentlicht, ein Jahr später bei Ullstein in Deutschland, das weiß zweifelsfrei auch der Cineast. 2010 kam der Film mit Leonardo DiCaprio (Teddy Daniels) und Mark Ruffalo (Chuck Aule) in den Hauptrollen in die Kinos und war ein bombastischer Erfolg. Die brillante Inszenierung von Großmeister Martin Scorsese, zahlreich nominiert für Kamera, Szenenbild, Schnitt, Drehbuch, spielte weltweit 294.804.195 US-$ ein, bei einem Budget von ca. 80 Millionen Dollar. Großartig misstrauisch und schlecht gelaunt: DiCaprio, weltweit bestbezahlter Schauspieler des Jahres 2010 ( Inception,gleiches Jahr).
„Mit wabernden Nebelschwaden und anderen klassischen Gruselfilmstilmitteln erzeugt Scorsese eine verblüffende Künstlichkeit,„ die rückblickend – und das ist der grandiose Clou von Shutter Island – völlig plausibel wird. Dazu trägt auch Scorseses Stammschauspieler Leonardo DiCaprio entscheidend bei. Seine zunehmend panische Darbietung wirkt wie die erschreckende Personifikation der Politparanoia, die in den USA der 50er-Jahre herrschte.“ (Cinema)
leonardoAllseits dickes Lob erntete die Verfilmung, die den Finster-Flair der 19-Fünfziger bei ungemütlichem Wetter in dubioser Gesellschaft phantastisch antastbar werden lässt, den Roman freilich holt sie nicht vom Podest. Wer gelesen und gesehen hat, kennt den feinen Unterschied zwischen atemlosen Verschlingen und dem Nervenkitzel-Gefühl, verschlungen zu werden. Beides gut.
„Oft sind die Einzelteile des Thrillers besser als das Ganze, daran ändert auch die herausragende Kameraarbeit von Robert Richardson und das engagierte Auftreten von Leonardo DiCaprio nichts. Ansonsten gibt es von allem etwas zu viel: Die Cops sind ein bisschen zu abgebrüht, die Anstaltsaltvorderen ein wenig zu finster und die Schatten, die das Ungemach wirft, einen Tick zu lang.“ (Filmstarts.de)
Kurz angerissen: Der US-Marshal Edward „Teddy“ Daniels (Leonardo DiCaprio) reist mit seinem Partner Chuck Aule im Jahr 1954 per Schiff zur fiktiven Insel Shutter Island vor der Küste von Massachusetts, um das Verschwinden einer Patientin aus dem Ashecliffe Hospital für psychisch gestörte Schwerverbrecher aufzuklären. Daniels erzählt Chuck, dass er glaube, mit den dort eingewiesenen Menschen würde experimentiert. Er habe aus sicherer Quelle erfahren, dass die USA menschliche Versuche wie bei den Nazis durchführen lasse, und eine der Spuren führe nach Shutter Island.
Körperlich und physisch geht es Daniels bereits auf der Schiffsfahrt nicht gut, im weiteren Verlauf der Story wird er bei den Ermittlungen und eigenen Verschwörungstheorien zunehmend paranoider, er hat starke Kopfschmerzen, zudem quälen ihn Halluzinationen und Albträume von seiner toten Ehefrau und seiner Zeit als US-Soldat am Ende des Zweiten Weltkriegs in Dachau. Nachforschungen in der Klinik ergeben zudem, dass es dort einen Inkognito-Patienten gibt, von dem Daniels glaubt, er sei für den Feuertod seiner Frau verantwortlich. Als erklärt wird, die entflohene Patientin sei wieder auftaucht, ist die Sache für ihn längst nicht erledigt. Er dreht jetzt richtig auf, sammelt Indizien für seinen schrecklichen Verdacht, traut keinem über den Weg, beäugt auch seinen Partner nervös, findet schließlich in einer Höhle eine andere Frau, von der er glaubt, sie sei die echte Vermisste. Von ihr, angeblich ehemals Klinik-Ärztin, erfährt Daniels, dass in der Klinik mittels Gehirnwäschen, Psychopharmaka und letztendlich Neurochirurgie Menschen zu nervenlosen, hemmungslos tötungsbereiten Wesen ohne Erinnerung gemacht würden, einsetzbar auch als Agenten im Kalten Krieg Menschliche Monster: Daniels sei auf dem besten Weg dahin, man würde ihn bereits schrittweise vergiften. Daniels erschrickt, sieht sich bestätigt, ist kampfbereit. Für die nackte Realität. Die eine wahre. Oder seine?! Selbst als ein ungeheurer Hurrika loswütet, macht er weiter. Im Klappentext zum Buch heißt es: „Doch je näher er der Wahrheit kommt, umso stärker wird sein Gefühl, die Kontrolle zu verlieren – will man ihn in den Wahnsinn treiben, um ihn auf der Insel festzuhalten?“ Eine (mögliche) Antwort: „Alles zu grausam, um wahr zu sein oder so grausam wie die Wahrheit, die der Fiktion zuliebe geopfert wird.“ (Schnitt, Filmmagazin)
„Wir müssen irgendwie von dieser Insel runter“, sagte Teddy. „Unseren Arsch Richtung Heimat bewegen.“ Chuck nickte. „Hab mir gedacht, dass du so was sagst.“ (…) „Ich weiß nicht, Chuck“, sagte Teddy. „Glaubst du, die sind uns auf den Fersen?“ – „Nein.“ Chuck legte den Kopf in den Nacken, blinzelte in die Sonne und grinste Teddy an. „Dafür sind wir zu gerissen.“ – „Ja“, sagte Teddy. „Sind wir, oder?“
klinikUnd Aus. Wer den Film kennt, weiß, was das bedeutet. Wer das Buch gelesen hat, wird sich augenblicklich daran erinnern. Wie genial es ist, wie beneidenswert gut geschrieben. Und wie dieses phantastische Ende einer Psycho-Reise in die finstere Vergangenheit daher kommt. Es schleicht sich an, wird schneller, schlägt zu, haut um. Stark.

Teddy gebührt das Schlusswort: „Ist es besser, als Monster zu leben oder als guter Mann zu sterben?“ Sein letzter Satz im Film. Sein Vergessen. Sein Erinnern. Sein Weg.
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The Others

Krasse Idee, Klasse Story. Ein wirklich guter Romanautor aus der Ecke, in der das Kerzenlicht verdächtig flackert, hätte aus dem Stoff ein richtig gutes Buch gemacht. Dann wäre der Film gedreht worden. Exakt so, wie wir ihn kennen. Diesen phantastisch guten Film The Others. Erst lesen, dann gucken, dann rundum satt und fürchterlich aufgewühlt und trotzdem großartig zufrieden sein, so wäre es perfekt gewesen. Regisseur Alejandro Amenábar war aber schneller. Er hatte die Grundidee, tatsächlich erkennbar erst beim grandiosen Gänsehaut-Finale, schrieb das Drehbuch, komponierte die Musik, setzte auf künstlerischen Freigang im Dämmerlicht und die Urangst vor der Dunkelheit, kreierte Großes und sagt(e) bescheiden:
„Es gibt weder Helden noch Bösewichte. Nur Menschen, die versuchen, eine Bedeutung in den Dingen zu finden, die ihnen widerfahren.“
theoth4Hat alles bestens funktioniert. Der Mystery- und Psychothriller aus dem Jahr 2001 mit der bleichen, kühlen Schönheit Nicole Kidman in der Hauptrolle ist ein absolut stimmiger Gruselschocker mit visuellen Anleihen an die große Schwarz-Weiß-Horror-Film-Aera der 40er-Jahre, der leise Klänge langsam und düster durch die Nerven jagt, bis der Trommelwirbel einsetzt. Famos finstere Töne sind das, herrlich edel und fürchterlich echt. Genial durchdacht, das Ganze: Der Zuschauer wandert mit stetig steigender Erregung und Erwartung durch die Geschichte, die einsame Gegend, das alte Anwesen, die düstere Atmosphäre, die merkwürdigen Akteure werden ihm vertrauter, er glaubt, zu verstehen, und steht am Ende vor einer Erkenntnis, die ihn wie ein plötzlicher Regenguss hautnah und eiskalt erwischt.
„Keine Messer, keine Schlitz-Szenen, keine dunklen, vermummten Killer, allein die Musik ist klassisch spannungsfördernd, um nicht zu sagen spannungsheischend eingesetzt.“ (Wolfgang Huang, filmspiegel.de)
Schauplatz des Films, der hauptsächlich in Kantabrien, Madrid und auf der Kanalinsel Jersey gedreht wurde, ist ein imposantes altes Gemäuer, das von einem riesigen, üppig bewachsenen Grundstück umgeben ist. An diesem irritierend schönen und doch gänzlich unheimlichen Ort bleibt der Zuschauer ausnahmslos bis zum verblüffenden Ende Gast, kurzweilige Ausflüge, die von der geheimnisvollen Stätte mit etwas netter Idylle vielleicht mal ablenken könnten, gibt es nicht. Ein Picknick im Grünen bei Sonnenschein und bester Laune steht nicht im Drehbuch, hier herrschen Strenge und Konzentration vor, Traurigkeit, Sorge, Furcht, Zweifel und Angst.
Alles erstklassig inszeniert und herüber geschickt. Die Resonanz war dementsprechend: The Others spielte bei vergleichsweise bescheidenen 17 Millonen US-Dollar an Produktionskosten weltweit in den Kinos rund 210 Millionen US-Dollar ein, erhielt etliche Auszeichnungen, allein acht Goyas und den Saturn Award in drei Kategorien, darunter Bester Horrorfilm.  Lobende Worte für den spanischen Regisseur, der 1997 mit Abre los Ojos(Virtual Nightmare – Open your Eyes: Remake Vanilla Sky, Tom Cruise, 2001) bereits die Reise über den großen Teich mit Ziel Film-Olymp erfolgreich anvisiert hatte, fanden viele, die notorischen Nörgler, die nicht anders können, blieben herrlich ruhig. So schrieb Manfred Müller 2001 im Spiegel:
„Alejandro Amenábar hält eindrucksvoll Einzug in Hollywood. Mit seinem subtilen Gruselfilm „The Others“ trieb er seine Hauptdarstellerin Nicole Kidman zu Höchstleistungen an und schuf einen Genreklassiker, der ohne grelle Effekte auskommt und auf die Phantasie des Zuschauers setzt.“
theoth2Zur Story sei Wesentliches gesagt, ohne zu verraten, was man vielleicht eh‘ längst weiß, aber gern mal wieder im von finsteren Sinnen beseelten Kopf hätte: Ende des Zweiten Weltkriegs, Kanalinsel Jersey: Grace lebt mit ihren Kindern Anne und Nicholas in völliger Abgeschiedenheit in einem riesigen Landhaus und hofft auf die Rückkehr ihres Ehemanns Charles, der als Soldat für England gekämpft hat. Personal ist zwar vorhanden, dieses verlässt Grace aber ohne Erklärung. Sie findet unverhofft Ersatz in der Haushälterin Mrs. Mills, dem Gärtner Mr. Tuttle und der stumme Dienstbotin Lydia. Die drei erhalten konkrete Anweisungen: Türen immer verschließen, Vorhänge stets zugezogen halten, um die Kinder zu schützen, die an einer Lichtallergie leiden. So weit geklärt, das Unheil nimmt seinen Lauf, es wird bedrohlich, es wird wirklich richtig spannend.
Da sind überall unerklärliche Geräusche, Grabsteine, die Wahres raunen, die kleine Tochter, die von einem fremden Jungen und einer seltsamen alten Frau erzählt, da ist eine verstörte Grace, die ein Foto-Album mit Bildern findet, die sie (völlig zu Recht) erschrecken, die durch den Nebel irrt, um den Pfarrer aufzusuchen und stattdessen auf Charles trifft, der sie ins Haus begleitet, mit dem sie streitet, mit dem sie schläft, der die Nacht bei ihr bleibt, einzig, um am nächsten Morgen wieder spurlos zu verschwinden. Wie eine Spukgestalt. Wie ihre Tochter, die plötzlich als völlig andere, schreckliche Person vor ihr steht. Wie eben all die Geister, Untoten, Seelen, die Zurückgelassenen, Wiedergekommenen, die Heimatsuchenden in Geschichten wie The Others es zu tun pflegen. Weil das nur so funktioniert, wenn auf eine Art gefesselt werden soll, die mächtig Eindruck hinterlässt. Nicht mehr, nicht weniger.
theoth1Hinzu kommt dieser herrlich angestaubte Stil, da werden beste Erinnerungen an Filme wie Hitchcocks berühmten NervenkitzlerRebecca wach. Kurz und präzise formuliert ist The Others ein „…an klassischen Vorgaben orientierter düsterer Thriller, dessen vermeintlich vorhersehbare Geschichte in dem Augenblick umschlägt, in dem man glaubt, alles begriffen zu haben. (Lexikon des Internationalen Films). Philipp Bühler in Die Tageszeitung formuliert diesem einen Wahnsinns-Augenblick im antiquiert scheinenden Ambiente recht salopp, haut aber hin:
„Natürlich ist es vor allem das nostalgische Flair, das „The Others“ von neueren Mystery-Thrillern wie „Sixth Sense“ abhebt. Viktorianische Kommoden sind einfach behaglicher als ausflippende Kühlschränke und Fernsehgeräte.“
Und weil die Kommoden sich allmählich beruhigen, kocht Mrs. Mills irgendwann, vielleicht im Morgengrauen, vielleicht in der Dämmerung oder typisch um Mitternacht allen „eine gute Tasse Tee“ und nickt ihnen zu, während sie lächelnd im Chor flüstern: „Dieses Haus gehört uns.“

Und alles ist gut. Könnte so sein. Wäre echt schön. Könnte auch anders sein. Wäre echt gruselig. Oder beides. Immer gut.
copyright by Karin Reddemann
erschienen unter www.phantastikon.de